„Mitleid.“: In Milo Raus’ Stück ist das Publikum der Nazi

Der Schweizer Regisseur Milo Rau hat mit „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ ein Stück geschaffen, das man schlicht als anders bezeichnen kann.

Zu lebhaft sind die Erzählungen und Schilderungen über den Genozid in Ruanda 1994, zu sehr ist das Stück ein Vortrag und keine klassische Vorführung. Mit zunehmender Dauer verwischt die Grenze zwischen Theater und Realität, produziert einen irritierten und nachdenklichen Zuseher. Beherrscht wird die Bühne von einem Müllberg, der sinnstiftend für das Chaos des Krieges steht. Ein Schreibtisch und eine Leinwand ergänzen das Bild. Uraufgeführt an der Berliner Schaubühne im Januar 2016, gastierte das Stück im Laufe des letztens Jahres an verschiedenen Spielstätten Europas, nur um am 27. Februar 2017 wieder zu seinen Wurzeln zurückzukehren.

In Milo Raus’ Stück ist das Publikum der Nazi.

Consolate Siperius sitzt an dem Tisch, ihr Gesicht erscheint auf der Leinwand, auf französisch wendet sie sich über die Kamera vor ihr an das Publikum. Die Übersetzung gibt es als Untertitel. Dieser Stil hält durchgehend an. Damit soll ein Bezug zum Film „Inglourious Basterds“ von Quentin Tarantino hergestellt werden, als die französische Hauptprotagonistin Shoshanna den Nazis über die Großleinwand deren Ende verkündet. Die vormals Verfolgte sieht den bald schon Sterbenden in die Augen. In Milo Raus’ Stück ist das Publikum der Nazi, steht stellvertretend für die weiße Schicht, deren ausufernde Gier nach Rohstoffen und Edelmetallen in letzter Instanz für Krieg und Misswirtschaft in Afrika stehen. Nicht ein einziges Mal sieht sie das Publikum direkt an. So wie Shoshanna in Quentin Tarantinos Werk möchte auch Consolate an alle vermeintlich Schuldigen am Tod ihrer Eltern ein Zeichen senden. Beide wurden 1993 vor ihren Augen ermordet.

Das ist kein Theater, sondern pure Realität.

Immer wieder muss sich das Publikum das ins Gedächtnis rufen. Das ist kein Theater, sondern pure Realität. Man kommt ins Grübeln über Krieg und Tod, Flüchtlinge und deren Fluchtgründe.

Die zweite Darstellerin ist Ursani Lardi, eine Schweizerin, die die Hauptrolle besetzt, wenn das bei zwei Personen überhaupt möglich ist. Sie verbreitet Populismus, die Rolle der AfD’lerin steht ihr. Wie ein Spiegel hält sie uns das vor, was rechte und nationalistische Parteien Tag für Tag auf der Welt von sich geben.

Eine gute Stunde lang erzählt sie anschließend von ihrer Zeit als Lehrerin in den 90ern in Zentralafrika. Hauptthema ist der Genozid in Ruanda, welchen sie mit Bildern, Anekdoten und Einzelschicksalen lebhaft weiter untermauert. Scheinbar spontan fällt ihr manches ein, vieles hat sie selbst erlebt oder beruht auf vor Ort durchgeführten Recherchen.

Wir überleben.

Surreal wirkt all das. Nach einer Traumerzählung erleichtert sie sich mitten auf der Bühne, zieht ein Gewehr aus dem Müllberg, zielt auf das Publikum, schreit, tobt und weint – auch hier klar inspiriert von der Schlussszene des Films. Manche Zuseher mögen den 105-minütigen Dauervortrag nicht, man spürt es. Ursina malt ein Bild mit Worten und wer sich auf dieses Bild nicht vollends einlassen, die Tragweite der Worte nicht in ihrem Ausmaß begreifen kann, der kann dieses Stück auch nicht in vollem Maße realisieren.

Als ob der Mittelteil nicht schon verstörend genug war, ist das Ende mit dem erneuten Auftreten von Consoltane noch einmal ein letzter Höhepunkt. Wie Shoshanna spricht sie zum Publikum, totenstill ist es im Saal und fast jeder erwartet, dass es nun auch uns so gehen wird wie den Nazis im Film. Wir überleben und treten mit dem Verdacht ins Freie, dass die Realität auf dieser Welt oftmals ganz anders aussieht, als uns das Theater namens Leben vorgaukeln möchte.

Nächster Aufführungsort ist am 11. April das Schauspielhaus Zürich.

Foto: Daniel Seiffert

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Kategorien Kultur Theater

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