Hausschlappen, Kitzelattacken und jede Menge Pommes

Mit ein paar Freunden lässt sich alles ertragen: Josephine (links) in Frankreich. Foto: privat

Mein 2011: Dieses Jahr dachte ich mir, ich starte mal so richtig durch. Ich entschied mich, zwei Monate in Frankreich zur Schule zu gehen, um dort ein anderes Leben zu leben, mal was etwas anderes zu sehen und die Sprache zu lernen. Und tatsächlich, alles wurde ganz anders.


von Josephine Burckhardt, 16 Jahre


Alles fing mit dem Grauen in Hausschlappen an. Alle Austauschschüler wurden vom Flughafen in Paris zu unserer Schule nach Rennes gebracht. Dort haben wir auf unsere Gastfamilien gewartet. Wir hatten alle ein komisches Gefühl, haben uns vorgestellt, wie es sein würde, wenn wir am Abend mit unserer Gastfamilie am Tisch sitzen würden, und wir haben überlegt, was wir mit unserem bröckelnden Französisch erzählen könnten. Zehn gut gekleidete Mütter kamen in den Raum, die elfte in Hausschlappen. Sie trug ein riesiges, weißes Schlabberoberteil, und ihre fettigen Haare  waren mit einem pinken Zopfgummi nach hinten zusammengebunden. Sie reichte mir gerade mal bis zur Schulter, lächelte liebevoll, und dabei kam ein schwarzer Zahn zum Vorschein – meine Gastmutter. Mon Dieu!



Alle Austauschschüler saßen nun mit ihren Gastfamilien in einem großen Saal. Alle unterhielten sich miteinander, doch das einzige, was mich meine Gastmutter fragte, war, ob ich gerne Pommes esse. Das würde es nämlich sehr oft zum Abendessen geben.



Während der Einführung verstand ich kaum ein Wort, und mein einziger Gedanke war: Wie gern wäre ich jetzt daheim. Doch ich versuchte, meinen Kloß im Hals zu verdrängen und nach vorne zu schauen. Vielleicht würde es mir auch bei dieser Gastmutter gefallen.



Dass dies nicht der Fall war, wurde mir klar, als ich die Wohnung betrat, in der ich für die nächsten zwei Monate leben sollte. Sie war dunkel, eng, sehr ungemütlich und uneinladend.  Immerhin, sie hatte zwei Badezimmer. Das eine diente zum Baden, das zweite als Abstellraum: In der Badewanne standen Kartons. Die Gastmutter  zeigte mir mein Zimmer. Es war sehr klein mit einem Schrank, zwei Schreibtischen und einem Doppelstockbett  darin. Sie erklärte mir,  ich würde dort mit meiner 10-jährigen Gastschwester schlafen. So hatte ich mir das ganz und gar nicht vorgestellt, und der Kloß in meinem Hals wurde immer  größer und größer. Ich fing an zu weinen und rief meinen Papa an. Der war zum Glück verständnisvoll und versprach mir, sich darum zu kümmern, dass es mir besser gehe. Mir war klar: Ich wollte die Familie wechseln, denn dort würde ich es nicht aushalten. Nicht, weil die Familie nicht nett gewesen wäre, sondern einfach, weil ich mich überhaupt nicht wohlfühlte.  Ich musste also noch einmal durchstarten, ich wollte hier raus!



Schon am nächsten Tag konnte ich mit einer deutschen Ansprechpartnerin reden, die mein Problem sehr gut verstand und zu mir meinte, dass ich spätestens in einer Woche in eine neue Familie ziehen könne. Diese Woche wurde die längste meines Lebens, aber ich hielt durch. Wobei ich oft an zu Hause denken musste – wieviel lieber wollte ich dort sein. So hatte ich mir diesen Aufenthalt nicht vorgestellt. Mit meiner zwölfjährigen Gastschwester sah ich viele Filme an, und einmal am Tag begleitete ich meine Gastmutter zum Einkaufen. Was für ein Abenteuer! Ein Einkaufswagen voller Chips und Pommes.



Ich hatte gedacht, Frankreich wäre bekannt für gutes Essen. Diese Familie bildete wohl eine Ausnahme. Fast jeden Abend gab es Pommes, einmal Huhn, als Beilage Chips. Auch das leckere Frühstück mit frischen Croissants blieb aus. Stattdessen: Kakao und Schokokekse. La haute cuisine!



Die Familie war dennoch sehr nett, abgesehen von dem Sohn, der wie ein Straßendieb aussah und mein Gastgeschenk noch nicht mal öffnete. Sie haben oft versucht, mich ein wenig aufzumuntern und mich zum Lächeln zu bringen. Doch jede Kitzelaktion schreckte mich eher ab. Ich setzte alle Hebel in Bewegung, um hier rauszukommen.



Und tatsächlich, nach acht Tagen beharrlichen Widerstands wurde ich in eine neue Familie gebracht. Diese machte von Anfang an einen viel besseren Eindruck auf mich. Sie lebte in einem schönen Haus, und ich hatte ein eigenes tolles Zimmer.



Ein Nachteil war allerdings, dass sie 19 Kilometer von meiner Schule entfernt wohnte und von dort nur einmal in der Stunde ein Spezial-Reisebus in die Stadt fuhr. Das hieß für mich Komplettumstellung, da ich zu Hause in Berlin sehr oft spät dran bin. Dreimal habe ich verschlafen. Zufällig (ehrlich!) immer am Donnerstag, wo ich in den ersten beiden Stunden Sport hatte. Daraufhin dachten meine Gasteltern, ich würde Sport absichtlich schwänzen, und es folgte die Regel, ich solle immer um halb 11 im Bett liegen. Halb 11, nach Berliner Zeit: Sandmännchen.



In dem Haus gab es sonst nicht viele Regeln. Nur, dass die Kinder alle im Haushalt helfen sollten und dass man auf der oberen Etage nichts essen oder trinken durfte. Wieso auch immer. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, irgendetwas falsch zu machen. Einmal habe ich aus Versehen ein Glas kaputtgemacht. Darauf sagte die Gastmutter nicht, wie es so üblich ist, „Nicht so schlimm“ oder“ War doch nur ein Glas“ , sondern: „Ja, das ist jetzt echt schlecht.“ Der Mittelpunkt der Familie war der Vater. Pierre. Wenn er nach Hause kam, musste das Essen auf dem Tisch stehen. Den Wein musste die Tochter von der ersten Etage holen, nach seinen Anweisungen. Das konnte schon mal eine Viertelstunde in Anspruch nehmen: „Bordeaux? 1999? Cote du Rhone ?“ Wieso stand er eigentlich nie selber auf?



Generell wurde mir mein Leben in der Familie nicht besonders einfach gemacht. Den Weg zur Bushaltestelle hat mir die Gastschwester nur einmal aufgezeichnet , weil sie keine Lust hatte, ihn einmal mit mir abzulaufen, und als ich mal ins Schwimmbad gehen wollte, habe ich mir das im Internet selbst raussuchen müssen.



In der Schule genauso: Wie oft wartete ich durch Missverständnisse zur falschen Zeit am falschen Ort. Einmal habe ich zum Beispiel Sport verpasst, weil ich nicht wusste , dass man zum Sportplatz mit dem Bus fährt. Ich meine, das gibt es in Deutschland nun mal nicht. Da läuft man die fünf Minuten. Andauernd gab es solche Probleme, für die man mich verantwortlich machte, obwohl mir vorher niemand etwas gesagt hatte. Einmal hatte ich, und ja, ich glaube das war das schlimmste Erlebnis in Frankreich, einen zu kurzen Rock an. Am Schultor wurde ich abgefangen und zum „Vie Scolaire“ gebracht. Dort gab man mir einen weißen Chemiekittel , der fast bodenlang war, und man erklärte mir, dass ich den nun den ganzen Tag tragen müsste. Gott, war das peinlich auf dem Schulhof, wie mich alle anstarrten und alle wussten: „Die hatte wohl einen zu kurzen Rock an! “ Es war nämlich eine katholische Schule.



Auf dem Nachhauseweg im Bus passierte eine der lustigsten Sachen. Der Busfahrer war offensichtlich neu und noch sehr unerfahren. Immer wenn er anfuhr, wackelte der ganze Bus. Die Fahrt wurde zu einer Zitterpartie. Nur für einen Fahrgast nicht. Er applaudierte immer, wenn die Kupplung raussprang: „Bravo! Superbe!“ Der ganze Bus lachte. Nur der Fahrer nicht. Er legte eine Vollbremsung hin, kam nach hinten und stellte den Mann zur Rede. Ich hatte in Frankreich oft Probleme, etwas zu verstehen. Diesmal verstand ich alles. Sie brüllten sich an, und der Fahrer wollte, dass der Mann aussteigt. Der aber wollte partout nicht. Der Fahrer ging wieder nach vorne und fuhr los. Schon wieder hüpfte der Bus! Und der Mann rief: “ Je veux descender!“ Ich will doch aussteigen!



Eigentlich habe ich von Frankreich anfangs nicht viel verstanden. Und das meine ich nicht nur sprachlich. Aber mit der Zeit begriff ich ein bisschen was vom französischen Lebensgefühl. Ich gewöhnte mich auch daran, auf mich allein gestellt zu sein. Obwohl, so alleine war ich bald gar nicht mehr. Sandrina aus Berlin war ja da, Bruno aus Brasilien, Reka aus Ungarn und Emilie, meine Sitznachbarin aus Mathe, die mir erst gestern wieder einen Brief geschrieben hat. Aber tief in mir wusste ich die ganze Zeit: Richtig durchstarten würde ich erst wieder in Berlin. Die Freude war riesig, als das Flugzeug auf der Landebahn in Tegel aufsetzte.

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