„Wir sind wie ein Tagebuch, das antwortet“: Interview zu Jugend-Suizid

Suizid ist die zweithäufigste Todesursache unter Jugendlichen. Das Projekt [U25] der Caritas bietet jenen Hilfe, die daran denken, sich das Leben zu nehmen

Rund 10 000 Menschen begehen jedes Jahr in Deutschland Suizid. Von allen Altersgruppen versuchen Jugendliche am häufigsten, sich das Leben zu nehmen. Spreewild sprach mit Anna Gleiniger von [U25], einem Projekt der Caritas, das jungen Menschen kostenlose und anonyme Beratung per Mail anbietet.

Anna, Anfang September startete [U25] eine Plakatkampagne in ganz Berlin. Weshalb habt ihr euch entschieden, so auffällig mit einem Thema umzugehen, das sonst eher im Verborgenen bleibt?
In erster Linie ging es darum, die Betroffenen auf unser Projekt aufmerksam zu machen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Jugendliche gar nicht wissen, dass es Beratungsangebote wie unseres überhaupt gibt. Zusätzlich finden wir, dass Suizid in der Öffentlichkeit immer noch viel zu wenig thematisiert wird. Besonders Jugendliche scheuen sich oft, über Suizidgedanken zu sprechen. Dabei kann ein Gespräch, wie wir ja auch auf unseren Plakaten schreiben, -Leben retten.

Anna Gleiniger ist Projektreferentin bei [U25]-Berlin. Foto: Privat
Anna Gleiniger ist Projektreferentin bei [U25]-Berlin. Foto: Privat
Wie setzt ihr diesen Leitsatz in eurer  praktischen Arbeit um?
Wir wollen Jugendlichen einen Raum geben, indem sie über das Thema sprechen können. Viele haben gar kein soziales Netz, keine Familienangehörigen oder Freunde, denen sie sich anvertrauen wollen. Wir möchten für sie da sein, auf Augenhöhe und anonym, als eine Art freundschaftliche Begleitung. -Deshalb sind unsere Ehrenamtlichen ebenfalls zwischen 16 und 25 Jahre alt und -haben häufig selbst schon schwere Krisen durchlebt. Wir sind ein -bisschen wie ein Tagebuch, das -antwortet.

Ihr beratet ausschließlich per E-Mail.
Genau, unsere Beratung soll anonym sein, das heißt, wir sehen die Klienten nie und telefonieren auch nicht mit ihnen. Die Jugendlichen sollen die Möglichkeit haben, ihre Sorgen niederzuschreiben und sich zu entlasten. Im Laufe des Kontakts versuchen wir dann, gemeinsam Lösungen zu finden, wie es besser werden kann, und versuchen auch, die Klienten weiterzuvermitteln, beispielsweise an einen Therapeuten.

Mit auffälligen Plakaten macht die Caritas auf Hilfsangebote für suizidgefährdete Jugendliche aufmerksam. DESIGN: KAKOII BERLIN; FOTO: GETTY IMAGES/WOLFGANG LIENBACHER
Mit auffälligen Plakaten macht die Caritas auf Hilfsangebote für suizidgefährdete Jugendliche aufmerksam. DESIGN: KAKOII BERLIN; FOTO: GETTY IMAGES/WOLFGANG LIENBACHER

Jugendliche unternehmen häufiger Suizidversuche als andere Altersgruppen. Woran liegt das?
Rund 600 Personen unter 25 Jahren nehmen sich jedes Jahr das -Leben. Junge Menschen erleben oft große Unsicherheit, sei es über das eigene Selbst oder weil wichtige -Entscheidungen getroffen werden müssen. Wenn man dann kein soziales Netz hat, kein stabiles Elternhaus, birgt das eine große Gefahr, dass diese Brüche nicht verarbeitet werden.

Suizid gilt als Tabuthema. Zugleich wird von Experten häufig davor gewarnt, Suiziden mediale Aufmerksamkeit zu schenken, weil das Nachahmer animieren könnte. Wie siehst du das?
Dass Suizid ein Tabuthema ist, erhöht für junge Menschen die Schwierigkeit, darüber zu sprechen. Natürlich sollten die Medien nicht auf Details eingehen, wenn sie da-rüber berichten. Trotzdem muss die Gesellschaft offener mit dem Thema umgehen, immerhin ist Suizid die zweithäufigste Todesursache unter Jugendlichen. Wir sollten signalisieren, dass wir uns für die Betroffenen interessieren, und darauf aufmerksam machen, dass es zahlreiche Anlaufstellen gibt, an die sich Jugendliche wenden können.

Das Gespräch führte Leonie Schlick, 21 Jahre.

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