Nachtisch für zwei


Wenn aus Zivildienst Ernst wird: Einblicke in eine Freundschaft


von Ole Faß


Als ich Sam das erste Mal sah, war ich geschockt. Da lag ein untersetzter aber fülliger Jugendlicher meines Alters mit Klamotten in seinem Bett, zappelte behäbig wie ein Käfer auf dem Rücken und stieß immer wieder ein freudiges „Äh-Äh-Äh“ aus. Dabei ließ er seine kleinen Augen blitzen und zeigte die übergroßen schiefen Zähne. Eine Freundschaft nahm ihren Lauf.


Obwohl ich mit Sam mehr Zeit als mit jedem anderen Menschen verbrachte, sprach er nie ein Wort mit mir. Wenn er rausgehen wollte – und wenn seine Medikamente ihn nicht zu sehr erledigten, wollte er das meistens – dann nahm er einfach meine Hand und zog mich bis zur Haustür hinter sich her. Meine Hand in seiner griff er nach der Klinke, drückte sie nach unten, und dann wusste ich, was Sache war.


Ich sagte ihm dann immer, dass er erst seine Schuhe anziehen müsse, bevor wir rausgehen könnten und schob ihn unter wortreichen Erklärungen zurück in sein Zimmer. Er legte sein ganzes Gewicht in seinen Widerwillen, zurück ins Zimmer geschoben zu werden, denn er wollte raus, und das war die falsche Richtung. Als ich es aber geschafft hatte, ihn auf sein Sofa zu setzen und ihm die Schuhe anzog, muss er verstanden haben, dass ich verstanden hatte.


Endlich draußen, schnappte er sich den nächstbesten Grashalm, hielt ihn wedelnd gegen den Himmel und summte die immer gleiche Melodie – ein hohes „Hm“, dem ein tieferes „Hm“ folgte, was dann zu einem angenehm meditativen Summen wurde.


Aber Sam hatte zwei Leidenschaften. Er liebte es nicht nur, draußen zu sein, er war auch ein großer Genießer, wenn es ums Essen ging. Er liebte es so sehr, dass er das Essen wie ein Scheunendrescher in sich reinschaufelte und auch das Kauen einfach übersprang. Damit er sich nicht verschlucken konnte, musste er mit einem Teelöffel essen, und ich schnitt sein Essen immer in ganz kleine Stücke. Trotzdem war er immer vor mir fertig. Dann konnte es passieren, dass er anfing zu summen und seine Hand behäbig aber bestimmt in Richtung meines Tellers wandern ließ. War ich nicht aufmerksam genug, schaffte er es mit einem beherzten Griff, an mein Essen zu gelangen und sich die Beute in den Mund zu schieben.


Es konnte aber auch passieren, dass er plötzlich ängstlich guckte, die Augen verdrehte und anfing, krampfhaft zu zucken. Sam war seit Geburt an Epileptiker und litt an häufigen und heftigen Anfällen. Er steckte im Körper eines Jugendlichen, sein Geist aber war der eines Säuglings mit Lebenserfahrung.


Es dauerte lange, bis ich mich nicht mehr fragte, ob Sam für das, was ich für ihn tat, dankbar war. Es gab Tage, an denen wir stinksauer aufeinander waren. Er biss sich dann immer in seine Hand und schrie sehr ärgerlich. Kurze Zeit später aber teilte ich schon wieder meinen Nachtisch mit ihm, und er summte vor sich hin und freute sich, wenn wir zusammen nach draußen gingen. Irgendwann habe ich begriffen, dass das Freundschaft ist. Das hat Sam für mich getan.


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Kategorien Gefühle

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