„Ich bin mein Herr“: Über eine Jugendliche, die bei den Zeugen Jehovas war

Julia gehörte zu den Zeugen Jehovas, wie ihre Eltern. Doch sie wollte frei leben – und musste dafür mit ihrer Familie brechen

Von Salonika Hutidi, 20 Jahre

Anfangs sei alles noch ganz nett gewesen. „Wir wurden freundlich begrüßt und die Leute interessierten sich für uns“, berichtet Julia (Name von der Redaktion geändert). Ihre Mutter lebte schon immer sehr christlich, also gab auch Julia den Zeugen Jehovas eine Chance.

Stückweise verschmolz die heute 29-Jährige mit den Strukturen der Glaubensgemeinschaft. Sie stieg die vorgesehene Karriereleiter für Mitglieder hinauf. „Ich bereitete mich auf die Zusammenkünfte vor, das Pendant zur christlichen Messe, wo Bibelabsätze und Leitartikel der sekteninternen Zeitschrift ‚Wachtturm‘ rezitiert wurden“, berichtet Julia. Begeistert habe sie zu den älteren Schwestern aufgeschaut. „Ich hatte das Gefühl, dass sie in mir ein gewisses Potenzial gesehen haben, was bislang unentdeckt geblieben war.“ Damals war Julia 13 Jahre alt.

In der Schule hatte das Mädchen keinen festen Freundeskreis. „Meine Mitschülerinnen waren bereits mit Jungs und Drogen beschäftigt, was mir zu schnell ging. Dafür lernte ich Jugendliche innerhalb der Organisation kennen, mit denen ich mich traf.“ Doch irgendetwas in ihr habe ihr keine Ruhe gelassen, berichtet sie. Sie begann sich mit weltlicher Lektüre zu beschäftigen, las philosophische Texte und freundete sich mit einem unbeliebten Mädchen aus der Gemeinde an, das als schlechter Umgang galt. „Ich lernte Homosexuelle und Kiffer kennen, die von der Gemeinde als unchristlich verteufelt wurden. Doch all diese ,Sündiger‘, wie sie von den Zeugen Jehovas genannt wurden, waren größtenteils ganz nett. Nur weil sich unsere Lebensmodelle unterschieden, musste ich sie doch nicht ablehnen“, wirft Julia noch immer nachdenklich auf. Ihr Unwissen über die Welt missfiel ihr zunehmend. Der Wille, sich nicht länger gedanklich einsperren zu lassen, wuchs. „Ich wollte nicht zu einer verurteilenden Gruppe gehören, in der es lediglich darum ging, etwas darzustellen. Ich wollte das Predigen von Bibeltexten nicht zu meiner einzigen Lebensaufgabe machen. Ich wollte einfach nicht so werden wie sie.“

„Familie und Freunde brachen stückweise den Kontakt zu mir ab“

Mit 19 Jahren begann Julia abends auszugehen – und Alkohol zu trinken. Verboten ist das bei den Zeugen Jehovas zwar nicht, aber auch nicht gern gesehen. „Eines Abends kam ich leicht betrunken nach Hause. Meine Mutter kam an mein Bett und ermahnte mich, ich würde mich unchristlich benehmen. Ich antwortete ihr, ich wollte auch keine Christin mehr sein.“

Das war der Wendepunkt. Alles Weitere nahm schnell seinen Lauf. Julia zog von zu Hause aus. „Meine Familie und Freunde brachen stückweise den Kontakt zu mir ab. Das war sehr schmerzhaft“, so Julia.

Doch sie blieb standhaft, begann, ihr eigenständiges Leben zu führen, hatte Beziehungen, auch zu einer Frau, was der Familie völlig missfiel. Dennoch sei es ihr schwergefallen, sich vollends von der Organisation abzuwenden. In ihrer Wohnung fühlte sie sich oft einsam, besonders nachts. Dass die Eltern ihr den Rücken kehrten, machte ihr zu schaffen. „Eine derartige Radikalität von meinen Eltern überraschte mich. Sie stellten eine abstrakte Idee über unsere Familie, wiesen mich ab und behandelten mich, als hätte ich ein Staatsverbrechen begangen. Ich war bitter enttäuscht.“

Für immer gebrandmarkt

Die Zurückweisung hinterließ Spuren. Noch heute fällt es Julia schwer, andere Menschen an sie heranzulassen. „Ein Selbstschutzmechanismus, den ich meiner Familiengeschichte verdanke.“

Keinen an deiner Seite zu wissen, setzt Julia noch heute zu. „Dieses Kapitel meines Lebens hat mich sichtlich gebrandmarkt, doch ich mache weiter“, erklärt sie. Ihr Wille, anders als ihre Familie ohne Guru oder Führer zu leben, ist stark. „Ich erlaube mir, alles zu tun und zu denken, solange es niemanden verletzt.“ Julia ist zu einem selbstständigen Menschen herangewachsen. Anderen Jugendlichen rät sie, niemals für einen anderen Menschen in eine Organisation wie diese einzutreten. „Wenn, dann tue es nur für dich selbst. Vielleicht erkennst du, dass du keine Gruppe brauchst, um dich selbst zu finden.“

Über die Zeugen Jehovas

  • Die Religionsgemeinschaft gibt es seit 1931. Sie entstand aus der „Internationalen Vereinigung Ernster Bibelforscher“, die Charles T. Russell Ende des 19. Jahrhunderts in den USA gründete.
  • Alle Anhänger sind dazu aufgerufen, ihre Freizeit für die Verteilung der Zeitschriften „Der Wachtturm“ und „Erwachet!“ zu verwenden.
  • Die Gläubigen sollen einen intensiven Kontakt zu Welt-Menschen vermeiden, da die Welt unter dem Einfluss des Teufels stehe.
  • Bluttransfusionen lehnen die Zeugen Jehovas ebenfalls ab. Eine solche medizinische Maßnahme verstoße gegen das göttliche Gebot.
  • In Deutschland leben laut eigenen Abgaben 165 470 Zeugen Jehovas.

Beitragsbild: dpa/Andreas Gebert

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Kategorien Gefühle Gesellschaft Zwischendurch

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