Auf das Schlimmste gefasst sein

Die Polizei soll möglichst schnell am Ort des Geschehens sein. Diejenigen, die sie rufen müssen, brauchen oft lange, um das Erlebte zu verarbeiten. Foto: dpa
Die Polizei soll möglichst schnell am Ort des Geschehens sein. Diejenigen, die sie rufen müssen, brauchen oft lange, um das Erlebte zu verarbeiten. Foto: dpa

Unsere Autorin half in einem Notfall, der sie erschütterte. Man müsste versuchen, sich darauf vorzubereiten

 

Zuerst beachtete ich den Mann nicht. Er lief neben mir die Treppe zum U-Bahnhof Kochstraße hinunter und schwankte dabei bedrohlich. Als er sich auf den Boden legte, war ich sicher, er wäre betrunken, da er eine Bierflasche in der Hand hielt. Um sicherzugehen, ging ich doch zu ihm. Ich sah, dass er blaue Lippen hatte, sein Gesicht blau anlief. Auf seiner Hose waren Blutspritzer. Eine Frau, die das mitbekam, rief die Polizei.
Ich rannte nach oben, eigentlich, um auf die Polizisten zu warten. Doch auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah ich bereits ein Polizeirevier. Ich rannte hinein, brüllte die Menschen an und versuchte, ihnen zu erzählen, was passiert war. Niemand interessierte sich dafür. Ich lief zum Pförtner und bat ihn um Hilfe. Er schickte mich zu den zuständigen Beamten, denen ich schilderte, was passiert war. Ich lief ihnen voraus.
Mittlerweile kümmerten sich vier hilfsbereite Menschen um den Mann. Aber er atmete nicht mehr und hatte keinen Puls. Ich sagte, dass die Polizei gleich komme. Derweil versuchten wir, den Mann wiederzubeleben und brachten ihn in die stabile Seitenlage. Die Polizei kam und schickte alle außer mich hinter eine Absperrung. Ein Polizist hatte meinen Schülerausweis für die Zeugenaussage einbehalten und so war ich die Einzige, die noch zwischen all den Polizisten stand. Mittlerweile hatten sich viele Zuschauer auf dem Bahnhof versammelt. Die Menschen drehten Filme mit ihren Handys und schossen Fotos von dem leblosen Mann.
Plötzlich ging es mir sehr schlecht. Meine Beine gaben nach und mein Kopf dröhnte. Ich war einfach mit der Situation überfordert. Ein Polizist brachte mich in das Personal-Häuschen auf dem Bahnhof. Ein Krankenwagen wurde für mich gerufen. Nachdem mein Puls getestet wurde, bekam ich ein Glas Wasser. Und Informationen über den leblosen Mann. Er hatte sich eine Überdosis Heroin gespritzt, daher kamen die Blutspritzer auf seiner Hose.
Da wir aber zum Glück rechtzeitig die Polizei benachrichtigt hatten, konnten sie ihn vorerst wiederbeleben. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht. Eine Freundin holte mich ab und fuhr mit mir nach Hause. Dort brach ich zusammen.
Die Situation war zu viel für mich. Davon, dass Menschen, wenn sie Unglücke sehen, einfach weitergehen oder sogar tatenlos zusehen, um ihre Neugier zu befriedigen, hört man von Zeit zu Zeit. Es selbst zu erleben, ist etwas vollkommen anderes. Zu sehen, dass Menschen nicht reagieren, wenn man sie um Hilfe bittet, damit kann man nur schwer umgehen, wenn man 15 Jahre alt und nicht dafür ausgebildet ist, Menschen zu retten. Ich denke, dass es wichtig wäre, mehr darüber aufzuklären, wie man sich verhält, wenn man Menschen in Notsituationen begegnet. Schulen wären sicherlich ein guter Ort dafür. Erste-Hilfe-Seminare für alle Schüler wären eine Möglichkeit. Damit würde man sich womöglich nicht ganz so hilflos fühlen.
Zwei Tage, nachdem es passiert war, rief ich auf der Polizeiwache an, um mich zu erkundigen, ob der Mann überlebt hat. Mir wurde keine Auskunft gegeben. Aus Gründen des Datenschutzes ist das nicht erlaubt. Ich weiß bis heute leider nicht, ob der Mann noch am Leben ist oder nicht. Das Bild von ihm in meinem Kopf werde ich nicht mehr vergessen.

 

(Von Anastasia Barner, 15 Jahre)

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Abitur: check. Schreiben für die coolste Jugendseite seitdem ich 14 bin: check. Weltherrschaft: in Arbeit. Wie genau ich das anstelle, weiß ich noch nicht. Ich, 19, bin noch in der Findungsphase. Ich habe bereits Praktika bei Mode- und Lifestyle-Magazinen absolviert und in vielen Filmen und Serien mitgespielt. Ansonsten reise und singe ich viel, verschlinge drei Bücher pro Woche und schreibe in jeder freien Minute. Wohin mich all das bringt, weiß ich noch nicht. Aber sobald ich es weiß, schreibe ich einen Artikel darüber.