Ghostwriting
Interview

Akademisches Ghostwriting: „Helena“ schreibt für andere wissenschaftliche Arbeiten

Wie lange brauchen Sie für eine 30-seitige Bachelorarbeit?

Das ist unterschiedlich. Den Zeitraum gibt ja im Prinzip der Kunde durch die Deadline vor. Und Menschen kommen in den verschiedensten Stadien der Projekterstellung zu uns: Manche haben noch gar kein Thema gefunden, andere haben ein abgesegnetes Exposé oder eine halbe Arbeit und wieder andere kommen mit einer fertigen Arbeit, mit der sie schon mal durchgefallen sind. Aber pauschal gesagt: Ist ein Projekt sehr eilig, kann ich auch schon mal 30 Seiten in einer Woche schreiben, allerdings dann, ohne Rücksprache zu halten. In der Regel dauert ein Projekt solchen Umfangs etwa einen bis anderthalb Monate, bei regem Austausch.

„Man kann bei 30 Euro pro Seite anfangen, nach oben hin ist das dann sehr flexibel.“

erzählt „Helena“

Wie viele Aufträge nehmen Sie im Jahr an? Bemerken Sie in den letzten Jahren eine Steigerung der Nachfrage?

Ich bearbeite 90 bis 120 Projekte im Jahr. Da sind dann aber die verschiedensten Sachen dabei, kleinere wie größere Arbeiten. Ich bin selbst nur für einen gewissen Fachbereich registriert und sehe deshalb nicht, wie viele Aufträge insgesamt eingehen. Ich kann nur sagen: Ich habe konstant Arbeit und auch nicht das Gefühl, dass das unbedingt mehr oder weniger wird. Wobei natürlich auch zu erwähnen ist, dass ich mich hauptsächlich in den Geistes- und Kulturwissenschaften bewege; dort lernt man das Schreiben ja als Teil des Studiums. Da werden Ghostwriter natürlich nicht so oft angefragt wie in anderen Studiengängen, in denen Klausuren geschrieben werden und die Studierenden akademisches Schreiben nicht lernen.

Wie viel verdienen Sie mit einer wissenschaftlichen Arbeit?

Das kann man nicht pauschal sagen. Agenturen bezahlen nach Seitenpreis. Wie hoch der ist, hängt vom Niveau der Arbeit und vom Arbeitsaufwand ab. Man kann bei 30 Euro pro Seite anfangen, nach oben hin ist das dann sehr flexibel. Es macht einen großen Unterschied, ob ich eine kleine Hausarbeit schreibe oder etwa eine Masterarbeit in meinem Fachgebiet, für die ich dann vielleicht noch Primärliteratur lesen und analysieren muss. Das ist ja ein ganz anderer Arbeitsaufwand. Da schwanken wir bei Seitenpreisen dann zwischen 50 und 60 Euro.

Was für Leute lassen sich ihre Arbeiten schreiben? Viele haben sicher das Klischee des faulen Studenten mit reichen Eltern vor Augen.

Das kann ich verstehen – die Realität sieht allerdings anders aus. Ich habe pro Jahr vielleicht ein, zwei Kunden, die einfach alles gemacht bekommen wollen und selbst nichts tun. Der Anteil dieser Leute ist aber zumindest in meinem Fachbereich verschwindend gering. Viele Menschen kommen in Notsituationen, weil sie wirklich Hilfe brauchen. Zum Beispiel Mütter, die während des Studiums schwanger geworden sind und es nun einfach nicht schaffen, neben dem Kind noch die Abschlussarbeit zu stemmen. Da bin ich dann fast noch eine psychologische Betreuung, weil diese Kundinnen echt am Limit sind. Oder junge Menschen, die direkt nach dem Studium ins Berufsleben einsteigen und die Abschlussarbeit dann noch schreiben müssen, während sie schon 40 Stunden die Woche arbeiten.

Haben Sie moralische Zweifel an Ihrer Arbeit? Es handelt sich im Prinzip ja um Hilfe zum Betrug.

Streng juristisch gesehen könnte ich mich darauf ausruhen, dass am Ende nur derjenige, der die Arbeit abgibt, betrügt. Doch ich hatte am Anfang auch meine Zweifel, gerade weil ich dem universitären System und der ganzen Wissenschaftswelt sehr verbunden war. Ich habe lange darüber nachgedacht und mich moralisch damit auseinandergesetzt. Ghostwriting ist nun mal eine Dienstleistung mit Geschmäckle, wie man sagt. Aber je mehr Kundenkontakt ich hatte, desto geringer wurden meine Zweifel. Denn es kommen einfach Leute zu mir, die tatsächlich meine Hilfe brauchen. Das sind Menschen, mit denen ich mich austausche, mit denen ich zusammen Gedanken entwickle, die an ihren Projekten auch selbst mitschreiben, während ich ihnen helfe. Für mich geht das viel in Richtung Schreibberatung, die die Uni einfach nicht leistet.

Auch die Agenturen möchten sich ja öffentlich als Hilfesteller präsentieren?

Es ist natürlich schwer, die Sache von außen zu beurteilen. Ich kann generell sagen: Das ist nicht realitätsfern. Es geht bei meiner Arbeit primär um Beratung und Unterstützung. Von meinen Direktkunden weiß ich auch, dass bei einem Projekt immer ein Lerneffekt für sie dabei ist. Wenn ich zum Beispiel sehe, dass Leute für ihre Bachelorarbeit meine Unterstützung brauchen, für die Masterarbeit dann aber gar nicht mehr kommen oder nur wollen, dass ich ihren Text einmal lektoriere, freue ich mich sehr und sehe, dass sie etwas dazugelernt haben.

Gehen Sie zum Recherchieren auch in die Uni-Bibliothek?

Natürlich. Ich habe einen Gastzugang zur Bibliothek meiner ehemaligen Uni. Zurzeit leihe ich dort natürlich nichts aus, aber es gibt ja auch Online-Datenquellen. Außerdem habe ich mir mit den Jahren eine eigene kleine Bibliothek aufgebaut, sowohl digital als auch physisch. Und ich habe natürlich noch viel Material aus meinem eigenen Studium. Für mich als Ghostwriterin ist es enorm wichtig, immer möglichst viel an Literatur verfügbar zu haben.

Erwarten Sie in Zeiten der Corona-Krise einen Anstieg der Nachfrage nach Ghostwriting?

Ich nehme an, dass viele Studiengänge in näherer Zukunft vermehrt auf Hausarbeiten und Essays als Prüfungsform umstellen werden. Daher könnte es sein, dass in den nächsten Monaten viele Studierende Hausarbeiten statt der üblichen Klausuren schreiben werden und dabei Hilfe benötigen. Ich glaube, dass deswegen gerade (telefonische) Schreibberatungen verstärkt in Anspruch genommen werden könnten.

Dieser Artikel ist zuerst auf funky.de erschienen.

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