Das ist Marie Kristin
Das ist Marie Kristin
Interview

„Ich hätte mir bei meinen Lehrern mehr Wissen über die Dyskalkulie gewünscht“

Marie hat das erste „Schlechte Noten“-Stipendium erhalten. Sie hat eine Rechenschwäche – und kämpft um Verbesserungen für Betroffene.

Von Antje Waldschmidt

Marie studiert Erziehungswissenschaft. Sie hatte in der Grundschule stets gute Noten und hat das Abitur gemacht. Wer den Werdegang der Mittzwanzigerin liest, könnte meinen, dass es sich um die Biografie einer gewöhnlichen Schülerin handle. Doch Marie ist auch die Stipendiatin des „Schlechte Noten“-Stipendiums, das von der Stipendien-Datenbank MyStipendium und der Kreditplattform Vexcash vergeben wurde. Die Studentin hat sich gegen 2.536 Mitbewerber durchgesetzt. „Die Wahl ist auf Marie gefallen, weil sie eine Dyskalkulie hat und deshalb schlechte Noten“, so MyStipendium-Gründerin Mira Maier. Sie macht mit ihrem Schicksal auf ein gesellschaftliches Problem aufmerksam, von dem auch viele andere betroffen sind. In Deutschland sind es rund vier Millionen Menschen.

Die Dyskalkulie ist eine anerkannte Krankheit und bedeutet Rechenstörung. Den Betroffenen fehlt das nötige Mengenverständnis und die Zählfertigkeiten, um die Grundrechenarten erlernen zu können. „Man spricht auch von einer neurobiologischen Störung. Kinder haben schon im frühkindlichen Alter ein sich selbstbildendes Mengenverständnis. Selbst Babys können eins bis drei unterscheiden. Das ist ein automatischer Mechanismus, der bei Kindern mit Dyskalkulie nicht automatisiert anspringt“, sagt Annette Höinghaus, Pressesprecherin des Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie. Das Fatale ist, dass die Basis mathematischer Logik in den ersten Schuljahren verinnerlicht wird. Dabei baut jeder Lernschritt auf dem vorangegangenen auf. Deshalb sei es wichtig, dass die Rechenschwäche früh genug erkannt wird, so Höinghaus.

„Das Problem ist, dass die Krankenkassen keine Therapie finanzieren“

Bei Marie war das nicht der Fall. Typisch für Betroffene mit Dyskalkulie ist, dass sie auf anderen Gebieten normal intelligent sind. Auch Marie war eine sehr ambitionierte Schülerin, die es mit großer Anstrengung schaffte, den Lernstoff auswendig zu lernen oder zu kompensieren. Der Leistungseinbruch kam erst in der Mittelstufe, als der Stoff abstrakter wurde. An dieser Stelle setzt ihre Systemkritik an: „Natürlich dürfen Lehrer eine Rechenstörung nicht diagnostizieren, aber sie sollten zumindest einen Blick für ihre Anzeichen entwickeln“, meint Marie. Hätte es dieses Wissen an ihrer Schule gegeben, wäre ihr die Diagnose einer verschleppten Rechenschwäche mit der durchschnittlichen Leistung einer 14-Jährigen als Erwachsene erspart geblieben.

Doch selbst bei einer frühen Diagnose fühlen sich Betroffene der Dyskalkulie allein gelassen. Sowohl finanziell als auch strukturell. „Das Problem ist, dass die Krankenkassen keine Therapie finanzieren, weil lesen, schreiben und rechnen beizubringen in der Verantwortung der Schule liegt“, so Höinghaus. Ob einem Kind trotz Dyskalkulie die Zukunft offensteht ist also eine Frage der Zahlungsfähigkeit der Eltern, denn die Schulen funktionieren oft nicht. Grund sei, dass die Kultusministerien das Problem weitgehend ignorieren, da es zur Rechenschwäche noch nicht ausreichend wissenschaftliche Untersuchungen gäbe. Viele Schulen haben zu wenig qualifizierte Förderlehrer für die Betroffenen mit Rechenstörung. Ebenso fehlen die notwendigen schulrechtlichen Regelungen. „Doch ein Kind mit Dyskalkulie, das in der Schule nicht entsprechend unterstützt und gefördert wird, hat bei mündlichen Fragestellungen keine Idee, welchen Beitrag es leisten soll und ist vom Unterricht komplett abgeschnitten“, erklärt Höinghaus. Daraus würden in der Folge oft psychosomatische Krankheitsbilder wie Bauchschmerzen bis hin zu fiebrigen Erscheinungen entstehen, die das Kind in ein seelisches Tief fallen lassen. Doch erst wenn das eintreffen würde, zahlen die Krankenkassen die medizinische Versorgung, aber keine Dyskakulietherapie, so Höinghaus.

Betroffene werden oft als faul oder unbegabt abgestempelt

Marie hat diese tiefe Krise durchlebt, ohne ihren Ursprung zu kennen. Erst im Studium bemerkte sie im Pflichtmodul Statistik, dass sie nicht in der Lage war den mathematischen Stoff zu verarbeiten, trotz aller Bemühungen. Die ehrgeizige Studentin ging dem auf den Grund und erhielt die späte Diagnose der Rechenschwäche. Diese stellt sie als Erwachsene vor noch größere Herausforderungen, als Kinder mit einer Rechenstörung ohnehin schon haben. Hinzu kommt, dass bei ungefähr 30 bis 40 Prozent der Menschen mit Dyskalkulie Begleiterscheinungen auftreten, sei es eine Legasthenie oder Aufmerksamkeitsstörung, so Höinghaus. „Es ist dann oft unklar, was die Person genau hat, weil sie in mehreren Bereichen beeinträchtigt ist. So kommt es schnell dazu, dass die Person als zu faul oder unbegabt abgestempelt wird“. Auch Marie hat neben ihrer Dyskalkulie weitere Erkrankungen, die ihre visuelle Wahrnehmung beeinträchtigen und es erschweren ihr Krankheitsbild einzugrenzen.

Klar ist, dass in Maries Fall auch ein systemisches Versagen vorgelegen hat. Es bleibt zu hoffen, dass sie ihr Studium der Erziehungswissenschaft trotz ihrer Krankheit erfolgreich abschließen und ihren Traum vom Master verwirklichen kann. Gewiss ist, dass die 6.000 Euro des „Schlechte Noten“-Stipendiums bei Marie in besten Händen sind. Nicht nur, weil sie es nutzen wird, um die notwendige Dyskalkulietherapie zu finanzieren, sondern auch, weil Marie mit ihrer Geschichte dazu beiträgt, Betroffenen der Rechenstörung Gehör zu verschaffen. Die Stipendiatin möchte sich für die Verbesserung der Situation für Menschen mit Dyskalkulie einsetzen, damit ihr persönlicher Leidensweg anderen erspart bleibt.

Foto: Michael Belogour

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