Die 9,6 passt genau 8,75-mal in die 84: Wie ich versuche, einem jungen Flüchtling Nachhilfe zu geben

Das in Deutschland heiß diskutierte Sozialsystem weist auch in der Flüchtlingshilfe Lücken auf. Unsere Autorin versucht – so wie tausende andere Ehrenamtliche – einige davon zu füllen.

Es gibt Momente, in denen nicht mein Nachhilfeschüler Gullmohammad kurz vor dem Verzweifeln steht, sondern ich selbst. Wir sitzen vor einer Matheübung und ich weiß einfach nicht, wie ich ihm erklären soll, dass die Zahl 9,6 genau 8,75-mal in die 84 passt. „Das funktioniert genau so, wie du es oben gemacht hast, da hat die 20 fünf Mal in die 100 gepasst“, versuche ich es noch einmal, während ich in den verblassenden Erinnerungen an meinen eigenen Mathematikunterricht stöbere. Mit x rechnen kann er noch nicht wirklich und noch eine andere Methode will mir einfach nicht einfallen.

Gullmohammad ist 16 Jahre alt und besucht eine Willkommensklasse. Er ist in seiner Heimat Afghanistan zwar zur Schule gegangen, aber auf dem Wissensstand seiner deutschen Altersgenossen ist er trotzdem noch nicht. Das liegt vor allem an der Sprachbarriere, die er mühsam überwinden muss, vielleicht auch an seinem etwas chaotischen Wesen oder einfach an der ganzen neuen Situation. Inzwischen ist er bereits anderthalb Jahre in Deutschland und lebt mit drei anderen Jugendlichen in einer Wohngemeinschaft. „Das hat mir das Jugendamt … besorgt, sagt man?“

Meistens läuft die Nachhilfe besser. Partizip I und II sind kein Problem mehr und nachdem ich oft genug wiederholt habe, dass das Prädikat eigentlich immer das Verb ist – inklusive der vielen Teile davon, die sich im Deutschen so gern am anderen Ende des Satzes verstecken –, bemerke ich auch da Fortschritte. Trotzdem ist es nicht einfach, jene komplizierten Regeln der deutschen Sprache zu erklären, die ich instinktiv kenne, die Gullmohammad aber erst erlernen muss.

Mein Ehrenamt läuft über Evin, einen 1997 gegründeten Verein und Träger verschiedener Projekte im Jugendhilfebereich. Der Begriff kommt aus dem Kurdischen und Türkischen und bedeutet übersetzt „Liebe“ und „Zuhause“. Genau das sind auch die Leitgedanken der Organisation.

Gullmohammad hat in den nächsten zwei Wochen die Chance, endlich in die 9. Klasse zu kommen. Er erklärt mir, dass er jetzt alles sehr ordentlich erledigen muss, und hofft, dass er auch auf sein Praktikum in einer anderen Klasse dieses Mal eine bessere Note bekommt. Parallel bereitet er sich auf eine Quizshow vor, die er mit anderen Schülern vorbereitet. „Ich bin noch neu hier, ich will einfach alles machen“, erzählt er begeistert. Außerdem möchte er seine Geschichte aufschreiben – auf Deutsch, nicht in seiner Muttersprache. „So etwas erlebt man nur einmal“, sagt er. Ich kann nur hoffen, dass das in seinem Fall stimmt.

Ihr wollt auch helfen? Informationen über den Verein Evin findet ihr auf:
www.evin-ev.de

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