„Ich bin ein Bürger vierter Klasse“


Aydin Akin ist 69 Jahre alt, seit 43 Jahren Berliner, Steuerberater und Kämpfer für sein Wahlrecht – hier auf einer 1. Mai-Kundgebung. Foto: privat


Was will eigentlich dieser Mann, der täglich durch Berlin radelt und laut pfeift? Wählen gehen


Herr Akin, fast jeder Berliner hat Sie schon einmal gesehen. Seit 2005 fahren Sie Tag und Nacht mit einer Trillerpfeife im Mund und einem Plakat auf dem Rücken mit Ihrem Fahrrad durch die Stadt. Am Silvestertag des vergangenen Jahres hatten Sie 82 010 Kilometer Strecke hinter sich gebracht. Wie weit wollen Sie noch fahren?


Ich werde fahren, bis ich mein Ziel erreiche. Seit 43 Jahren wohne ich in Berlin und habe trotzdem kein Wahlrecht, weil ich türkischer Staatsbürger bin. Ich bin damals nach Deutschland gekommen, um zu promovieren. Mit der Zeit sah ich Widersprüche in der deutschen Gesellschaft und war enttäuscht. Europa war unser politisches Vorbild, aber ich habe gemerkt, dass hier große Fehler gemacht werden.


Welche denn?


In den 90er-Jahren gab es Streit, ob Ausländer in Deutschland an den Kommunalwahlen teilnehmen dürfen. 1994 wurden sie in zwei Gruppen geteilt: in EU-Bürger und Bürger aus Drittländern. Oder wie ich sie nenne: bevorzugte und nicht bevorzugte Ausländer. Die europäischen Gastarbeiter durften dann wählen, ich nicht. Als wir hierher kamen, waren uns gleiche Rechte und Pflichten versprochen worden. Aber wir haben steuerrechtliche Nachteile, dürfen nicht an Volksbegehren teilnehmen. Ich fühle mich als Bürger vierter Klasse. Erste Klasse: Deutsche, zweite: EU-Bürger, dritte: Bürger reicher Länder, die durch das Einwanderungsgesetz von 2007 nicht zwingend Deutschkenntnisse benötigen, vierte: Araber und Türken wie ich.


Warum nehmen Sie nicht einfach die deutsche Staatsbürgerschaft an?


Ich habe zwei Heimaten, und wenn ich die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen würde, müsste ich die türkische ablegen. Außerdem, Hand aufs Herz: Wer will schon Mensch vierter Klasse sein? Bürger der EU-Länder können eine doppelte Staatsangehörigkeit annehmen, wir dürfen das nicht. Warum nicht? Vor Kurzem fand der Jahrestag der Gastarbeiter statt. Alle haben sich bei uns Türken bedankt. Aber ich finde, bevor man sich bedankt, sollte man sich für die Ungerechtigkeit entschuldigen und endlich etwas daran ändern.


Was hält Ihre Familie von Ihren Fahrraddemos?


Als meine Tochter, die in Deutschland geboren wurde, jünger war, hat sie sich für meine Aktion geschämt. Aber dann wurde in ihrer Schule Werbung für die U16-Wahl gemacht. Im Gegensatz zu den griechischen und italienischen Schülern ihrer Klasse durfte sie nicht teilnehmen, seitdem versteht und unterstützt sie mich.


Was wünschen Sie sich von der deutschen Gesellschaft?


Besonders Jugendliche müssen wissen, dass Unterschiede zwischen Ausländern gemacht werden, und sie sollten gegen die Diskriminierung kämpfen. Außerdem ist es wichtig, dass die Menschen politisch auf dem Laufenden bleiben. Bei uns ist die Tagesschau jeden Abend Pflicht, und ich finde, dass alle Familien mindestens diese 15 Minuten Politik mitkriegen sollten. Als 2005 Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, fragte mich mein Sohn: Wird sie uns jetzt rausschmeißen? Ich will nicht, dass die ausländischen Kinder Angst haben. Ihretwegen gehe ich mit 
69 Jahren noch auf die Straße. Ich tue das für die Jugend!


Das Interview führte Josephine Valeske, 15 Jahre

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