Die Stadt aus der Sicht von Obdachlosen

Carsten (mitten hinten, mit Brille) während einer Tour, Foto: Sally Ollech / querstadtein.org

Mülleimer, deren Design es unmöglich macht, bis auf den Boden hineinzugreifen, Sitzbänke mit Armlehen, auf denen man nicht liegen kann, zugestellte Hauseingänge – Obdachlose betrachten die Welt mit anderen Augen und nehmen Details wahr, die Anderen verloren gehen.

Einen kurzen Blick in diese fremde und doch wachsende Parallelwelt der Straßenbewohner bietet die Führung „querstadtein“, auf der man ehemalige Obdachlose durch die Straßen zwischen  Nollendorfplatz und Zoo begleitet.

Man erfährt, dass es „Wotas“, Tagesstätten für Wohnungslose gibt, und dass drei Gruppen von Obdachlosen existieren: Die einheimischen Wohungslosen, die Armutsmigranten und die jungen Mitglieder der Punkszene, wobei die dritte Gruppe als die am schwierigsten erreichbare gilt. Die ungewöhnlichen Stadtführer erklären den Unterschied zwischen Obdach- und Wohnungslosigkeit und nennen die Gründe, aus denen Berlin als Magnet für Obdachlose des ganzen Bundesgebietes gilt.

Carsten ist einer der Stadtführer, ehemals Manager bei der Messe „Bread and Butter“. Er litt an einer starken Depression und bekam irgendwann das, was heute als Burn-Out bezeichnet wird. Jedwede Hilfe lehnte er ab, versäumte und verweigerte alle Behördengänge, bis schließlich seine Wohnung geräumt wurde. Nachdem er eine Zeit lang in der Gartenlaube von Freunden verbracht hatte, stand er mitten im November entgültig ohne Dach über dem Kopf da. Erst dann wurde ihm bewusst, dass er Hilfe brauchte – und er bekam sie, in einer „Wota“. „Schritt für Schritt wurde mir geholfen, mein Leben wieder aufzubauen.“ Doch nicht jeder kommt wieder in die „Normalität“ hinein, und nicht jeder will es.

Viele scheitern an dem Gewirr der Behörden. Und selbst wer das geschafft und einen Platz in einem Übergangswohnheim bekommen hat, wird von kaum einer Vermietungsgesellschaft angenommen – der Wohnraum in Berlin ist zu knapp. Carsten zufolge sei das eines der Hauptprobleme, die es zu lösen gelte. Außerdem wünscht er sich eine zentrale Anlaufstelle für Obdachlose, in der man in verschiedenen Sprachen niederschwellige Hilfe erhalte, sich also nicht wie zum Beispiel bei der Berliner Tafel ausweisen oder andere Voraussetzungen erfüllen müsse. Als Kiezführer leistet er gute Arbeit, spricht in sachlichem Tonfall, weder verteufelt er das Leben auf der Straße, noch verherrlicht er es. Er will kein Mitleid heraufbeschwören, denn „das brauchen und wollen Obdachlose gar nicht.“

Das Klischee des flaschensammelnden Menschen mit abgerissener Kleidung und Einkaufswagen, das die Öffentlichkeit von Obdachlosen habe, sei fast immer falsch, so Carsten: Etwa achtzig Prozent aller Obdachlosen erkenne man kaum als solche, einfach deswegen, weil ein auffälliges Äußeres das Leben im öffentlichen Raum so erschwere: Unauffälligkeit sei das oberste Gebot.

Den Einzelnen fordert Carsten auf, durch Kleinigkeiten zu helfen: Pfandflaschen neben die Mülleinmer zu stellen, statt sie wegzuwerfen, beim Kauf einer Obdachlosenzeitung dem Verkäufer in die Augen zu blicken, ihn nach den Gründen der Obdachlosigkeit zu fragen.

 

Fazit: Querstadtein“ ist eine Stadtführung für Berliner und Nichtberliner, die sich lohnt.

 

Infos zur Führung gibt es hier: querstadtein.org

 

Von Josephine Valeske

 

 

 

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Kategorien Politik

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