Claudia Nazauer, 15 Jahre, fragt: „Die deutsche Vergangenheit lässt uns im Geschichtsunterricht oft erschauern. Da wirkt die Gegenwart gar nicht so schlimm. Warum erwarten also immer alle von uns, dass wir mehr protestieren sollen?“
Herr Höff antwortet: Die meisten denken vermutlich, dass alles, was falsch ist, so lange Zeit zurückliegt, dass man sich darum nicht kümmern muss. Und der normal beschäftigte Mensch kann ja sowieso nicht nach China, Iran oder Libyen fahren, um dort die Zustände zu ändern. Was viele vergessen: Es gibt auch hier und jetzt Handlungsbedarf.
Der französische Schriftsteller Stéphane Hessel hat mit seinem Buch „Empört Euch!“ offensichtlich den Nerv vor allem seiner Leser in Frankreich getroffen, wo sein Buch ein Bestseller ist. Der ehemalige Résistance-Kämpfer, KZ-Überlebende und spätere Diplomat sorgt sich um den qualitativen Zustand der westlichen Demokratien. Er konstatiert eine Diktatur der Finanzmärkte und Wirtschaftsmonopole und fordert die „Ausschaltung des Einflusses der im Wirtschafts- und Finanzbereich bestehenden privaten Herrschaftsdomänen“, die nur nach Gewinnmaximierung streben, auch wenn es dem Gemeinwohl schadet.
Wenn Entscheidungen der demokratischen Institutionen im Finanz- und Wirtschaftsbereich alternativlos den Vorgaben der privaten, also nicht von demokratischen Institutionen wie Parlament und Regierung beeinflussten Unternehmen folgen müssen, wie wir es während der Finanzkrise erlebt haben, muss tatsächlich ein strukturelles Demokratiedefizit konstatiert werden. Und Stéphane Hessel hofft, dass aus der natürlichen Widerspruchsmentalität der Jugend das notwendige Empörungspotenzial erwachsen wird, um die nicht demokratisch legitimierten Herrschaftsansprüche privater Unternehmen zurückzuweisen. Ich hoffe, dass er recht hat.
Dein Manfred