Erdogan tut den Migranten keinen Gefallen

von Laura Harmsen, 20 Jahre


Laura Harmsen: „Wer in Deutschland aufwächst, sollte deutsch lernen.“ Foto: Privat

Vergangene Woche forderte der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan, Kinder türkischer Familien, die in Deutschland leben, sollten zuerst türkisch und dann deutsch lernen.


Ich bezweifle, dass die Sprachwissenschaftler, wie der Premier meint, sich einig sind, dass ein Kind eine ganz bestimmte Sprache sprechen muss, bevor es eine zweite lernen kann. Es ist sicher wichtig, dass ein Kind eine Sprache beherrscht, bevor es anfängt, eine andere zu erlernen. Ich sehe aber keinen Grund, dass die erste Sprache unbedingt Türkisch sein sollte. Heute können viele Eltern „türkischer“ Kinder überhaupt kein Türkisch mehr, da sie selbst bereits in Deutschland aufgewachsen sind. Das bedeutet, dass Türkisch auch nicht mehr ihre Muttersprache ist.


In Familien, die türkisch sprechen, besteht die wirkliche Hürde hingegen darin, auch deutsch zu lernen.


Ich glaube, ein Problem ist, dass zu viele Kinder und Jugendliche keine Sprache richtig können. Zu Hause unterhalten sie sich auf Türkisch und in der Schule und mit Freunden auf Deutsch. Somit fehlt ihnen zum Beispiel ein Teil des deutschen Wortschatzes für Dinge im Haushalt, während sie auf Türkisch nicht über Geografie oder Biologie sprechen können. Wichtig ist jedoch, wenigstens eine Sprache fließend zu beherrschen. Nicht nur, um sich im Leben zurechtzufinden, sondern auch, um eigene Gedanken bilden und formulieren zu können. Denn Erinnerung und Wahrnehmung hängen mit unserer Sprachfähigkeit zusammen. Da die Kinder in Deutschland aufwachsen und viele von ihnen immer hier leben werden, ist klar, dass die deutsche Sprache für sie Vorrang haben sollte.


Hinzu kommt, dass Kinder von Migranten ohnehin oft mit gespaltener Identität leben müssen. Das hat auch viel mit der Sprache zu tun. Wer nicht richtig deutsch spricht, gilt hier als Ausländer, während er in der Türkei als Deutscher gesehen wird. Doch jeder Mensch muss sich irgendwo zu Hause oder zugehörig fühlen können.


Ich finde es etwas frech, dass Herr Erdogan etwas fordert, das er selbst wohl kaum in der Türkei akzeptieren würde. Des Weiteren ist fraglich, ob sich die vielen Migranten, die seit Jahren, wenn nicht Generationen, hier leben, überhaupt noch als Bürger der Türkei fühlen und von Erdogan vertreten werden wollen. Auch tut der Premier den Migranten keinen Gefallen, wenn er impliziert, dass Migrationshintergrund gleich Ausländer bedeutet. Für viele Migranten ist es schon schwer genug, als Mitbürger in Deutschland akzeptiert zu werden. Erdogan macht es ihnen noch schwerer.

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Kategorien Politik

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