Young Euro Classic ist ein Schulprojekt in Kooperation mit dem Internationalen Literaturfestival Berlin.

Young Euro Classic: Berliner Schüler*innen schreiben bewegende Texte über Europa

Der rote Block

von Annika Saalfeld

Seit drei Jahren, seit ich eingeschult wurde, sitze ich fünf Vormittage die Woche auf diesem Platz.
Er befindet sich in der zweiten Reihe von vorne, schräg neben mir hängt eine leise tickende Uhr. Vor mir liegen wie immer ein Buch und ein Heft, mein Federmäppchen und mein roter Block.
Der Block ist dick und aus Leder – und als ich ihn bekommen habe, muss ich so überfordert geguckt haben, dass meine Mutter mich in den Arm genommen und meine Stirn geküsst hat.
„Jetzt wird alles gut“, hat sie geflüstert und ich habe ihr geglaubt – denn sie ist meine Mutter und hat mich beinahe niemals belogen. Und bis zum heutigen Tag hat sie recht behalten.

Seit damals habe ich kaum noch Angst verspürt und konnte endlich wieder lachen.

Den roten Block habe ich seitdem kaum mehr aus der Hand gelegt. Wann immer ich eine Frage hatte, aber sie noch nicht ausdrücken konnte, malte oder schrieb ich sie auf. Und wenn ich jemanden fand, der mir eine Antwort geben konnte, kramte ich so schnell wie möglich meinen Stift hervor. Jede Information ist mir wichtig. Und Fragen habe ich immer noch viele.

So vieles ist anders und unverständlich. Doch einiges ist gleich. Wenn dir jemand einen Ball vor die Füße rollt, dann schießt du ihn. Und wenn jemand sein Pausenbrot teilt, dann dankst du ihm.

Ich habe viele Freunde, mit denen ich Pausenbrote teile und Fußball spiele. Dank ihnen füh-le ich mich nicht mehr fremd und verfalle nicht mehr in Schockstarre, wenn die laute, inzwi-schen herbeigesehnte, Schulklingel ertönt.

All ihre Namen stehen in meinem roten Block: Sie gehören einfach zu dem sicheren Gefühl, das mich überkommt, wenn ich über den ledrigen abgewetzten Umschlag streiche.

Meine Lehrerin stellt eine Frage über die großen Flüsse in Deutschland und während ich meinen Arm abwartend in die Höhe strecke, schweifen meine Gedanken ab: Die Flüsse auf den bunten Karten an der Tafel sind sehr unterschiedlich. Einige sind breit und reißend, an-dere schmal, mit sanft fließendem Wasser. Aber keiner ist so schön wie der Kabul.

Die Erinnerung steht lebhaft vor meinem inneren Auge – und manchmal, wenn ich nicht schlafen kann, stelle ich mir das stetige beruhigende Strömen des Flusses direkt am Haus meiner Großeltern vor.
Wie oft bin ich dort mit den Nachbarskindern auf den Steinen herumgesprungen, während mein Opa uns mit besorgtem Blick von der knarrenden Holzveranda aus zugesehen hat. Ich kann den frisch gebrühten Nachmittagstee, der mir bis heute fehlt, schon fast wieder rie-chen. Dann ein Klopfen an der Tür des Klassenzimmers.

Meine Gedanken schnellen zurück ins Hier und Jetzt.
Die Tür öffnet sich und ein großer Mann mit breitem Kreuz und vollem grauen Haar streckt seinen Kopf herein. Unser Schulleiter! Er nickt unserer Lehrerin mit ernstem Gesichtsaus-druck zu: „Auf ein Wort, bitte“!

Ein paar Mitschüler fangen an zu tuscheln. Die große Uhr zeigt: gleich ist Pause. Mein Sitz-nachbar schleudert mit einem perfekten Wurf seine leere Milchtüte in den Mülleimer. Grin-send schlagen wir ein.

Die Tür öffnet sich erneut und meine Lehrerin betritt langsam wieder den Raum. Ihr Blick ist starr zu Boden gerichtet und ihr Gesicht ist blass. Sie ringt ihre offensichtlich zitternden Hände. Für eine Sekunde schaut sie mir in die Augen und ich lächle sie schnell an, um sie aufzumuntern – so wie sie es immer tut, wenn wir vor einem Test nervös sind.
Kurz wirkt es so, als wollte sie etwas sagen, bricht dann aber ab und deutet mit dem Kinn auf unseren Direktor. Er geht mit ruhigen Schritten und gerunzelter Stirn durch den Mittelgang. Irgendwas stimmt nicht. Er wendet sich nach links, macht noch zwei große Schritte und bleibt vor meinem Tisch stehen.

„Bist du Navid Rahimi?“
Verwirrt blicke ich zu ihm auf. Was könnte ich denn falsch gemacht haben? Eigentlich sieht er gar nicht verärgert aus, ich kann den durchdringenden Blick nicht deuten.
„Ja“, sage ich und ärgere mich gleichzeitig, dass sich meine Antwort eher wie eine Frage anhört.
Er geht leicht in die Hocke und schaut mir direkt ins Gesicht. „Hör zu, du musst jetzt mit-kommen, bitte pack deine Sachen.“ Ich runzle die Stirn. Was soll das denn? Ich spüre, wie sich die Blicke aller auf mich richten. Plötzlich platzt ein schrecklicher Gedanke aus mir her-aus: „Ist etwas mit meiner Mutter? Ist sie verletzt”? – „Deiner Mutter geht es gut, sie wartet draußen im Wagen auf dich“.

Er wirft einen Blick über meine Schulter und sagt dann deutlich gehetzter: „Sie wird dir alles erklären, Navid, pack nun bitte deine Sachen, aber lass die Schulbücher hier“; er zögert und macht ein Gesicht, als wäre ihm sein letztes Mittagessen nicht bekommen: “Die wirst du erst mal nicht mehr brauchen.“
Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Unruhig wende ich mein Gesicht nach hinten, folge seinem Blick.
Zwei Polizisten stehen in der Tür. Echte. Sie tragen volle Montur, dicke Westen, Mützen mit Sternen drauf und Gürtel mit Funkgerät und Schlagstock.
Ich starre sie an. Und langsam, wie Maden durch morsches Holz, kriecht in mir eine Vorahnung hoch.

Meine Mutter hatte ein einziges Mal mit mir darüber gesprochen – nachdem wir mitansehen mussten, wie die Nachbarn von über uns mitten in der Nacht von der Polizei mitgenommen wurden. Sie hätten nichts falsch gemacht, sagte Mutter. Es gäbe bloß nicht genügend Platz in Deutschland. Und da, wo sie herkommen, sei es nun wieder sicher genug.

Da hatte meine Mutter mich das erste Mal angelogen.

Ich merkte es, als in der folgenden Woche von neuen Straßenkämpfen und Bombeneinschlägen im Heimatland jener Nachbarn berichtet wurde. Ich nahm ihr die Lüge nicht übel. Aber als ich die Wahrheit zu begreifen versuchte, überkam mich eine Welle nackter Panik. Ich gab mir viel Mühe, so zu tun, als glaubte ich ihr noch.

Ich verstehe nicht, wieso man Menschen in Kriegsgebiete schickt, obwohl sie hier doch viel sicherer leben. Es kam mir so surreal vor. Doch meine Mutter wiederholte immer wieder mit eindringlicher Stimme, da wären wir machtlos. Wir könnten nur beten. Und so sprach ich nie wieder darüber – in der stillen Hoffnung, dass niemals ein Polizist an unserer Tür klopfen würde.

Ich schüttle meinen Kopf, drehe mich um und schaue hoch zu unserem eindrucksvollen Direktor. “Ich kann jetzt nicht gehen. Wir schreiben morgen eine Deutscharbeit. Ich muss hier bleiben.“
Das muss er doch verstehen.
Doch der schüttelt ebenfalls den Kopf. „Das ist jetzt nicht mehr wichtig.“
Meine Augen huschen zu unserer Klassenlehrerin, meiner Stütze seit meinem ersten Tag in einer völlig fremden Schule. Sie weicht meinem Blick aus, die Arme um die Rippen geschlungen. Verstört schaue ich wieder zu dem Mann vor mir, der mich erneut auffordert meine Tasche zu packen.
„Ich muss zurück, oder?“
Er nickt.

Das kann nicht sein. Afghanistan ist nicht sicher! Bilder und Geräusche ziehen durch meinen Kopf. Ich werde sie niemals vergessen. Entsetzt starre ich ihn an.
Er bewegt die Lippen, doch ich verstehe seine Worte nicht mehr. Ein Rauschen erfüllt meine Ohren.
Das Licht um mich herum beginnt zu flimmern, wie ein wild blinkendes Warnsignal.
Das Ticken der Uhr wird lauter.
Meine Lieder zucken. Mein Kopf bewegt sich immer heftiger hin und her.
Tick. Tack.
Eine Betonhand legt sich auf meine Schulter. Mein Körper windet sich, um sie loszuwerden.
Ich spüre die Präsenz des Polizisten überdeutlich.
Tick, Tack.

Der Direktor hat begonnen, mein Mäppchen und mein Namensschild in meinem Rucksack zu verstauen. Stück für Stück verschwinde ich vom Tisch. Tick, Tack, Tick, Tack.
Ich erstarre in der Bewegung, als er seine Hand nach dem roten Block ausstreckt.
Bumm.
Wahrscheinlich ist es ein Instinkt. Mein Arm schnellt vor und birgt den roten Block an meiner Brust.
Ich falle in mich zusammen. Ich bin leer und wehre mich nicht, als die Betonhand mich vom Stuhl zieht.

Zwischen den Polizisten taumele ich zur Klassentür. Ich hebe meinen Kopf. Der Kartenständer, die Tafel, die Gesichter meiner Mitschüler, meiner Freunde.
Ich scheitere an einem Lächeln.
Meine Augen brennen und ich fixiere mich auf meine Finger, die sich um den abgewetzten roten Umschlag krampfen.
Ich trete über die Schwelle. Das Licht ändert sich. Für zwei unendlich lange Sekunden bleibe ich stehen. Ich drehe mich nicht um, bin ganz still. Und höre den Knall.

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