Für ein neues Israel

Mehr als 100 000 Beduinen leben im Negev. Unsere Jugendredakteurin hat sie besucht

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Knapp die Hälfte der in Israel lebenden Beduinen wohnt in sogenannten nicht anerkannten Dörfern. Sie haben kein Recht auf einen Anschluss an das Strom und Wassernetz oder auf Müllabfuhr. Foto: ALINA MOHAUPT

Bevölkerung gleich jüdisch, Religion gleich Judentum, politische Situation gleich Religionskrieg mit Palästina: So lässt sich Israel beschreiben, oder? Wer sich traut, über die Mauern aus Wikipedia-Fakten zu klettern, dem wird auffallen, dass das Land aus den Nachrichten eine Vielzahl an Einwohnergruppen und Religionen vereint.
Ich habe diesen Sprung gewagt, ermöglicht durch eine Kooperation der Bildungs- und Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz und der gemeinnützigen Organisation „A New Dawn in the Negev“ für arabisch-jüdische Kommunikation. Zentrales Thema des Projekts ist die Diskriminierung der Beduinen in Israel, ein Wüstenvolk, das vor langer Zeit aus Saudi-Arabien nach Israel in das Gebiet der Wüste Negev pilgerte. Sie sind Teil einer großen arabischen Minderheit, die mit der jüdischen Regierung des Landes in Konflikt steht.

Das Land der Ahnen verteidigen

Zusammen mit neun weiteren deutschen Schülern des Schiller-Gymnasiums reiste ich für neun Tage nach Rahat, eine der wenigen Städte, in denen Beduinen friedlich leben können. Viele Familien leben in sogenannten nicht anerkannten Dörfern in Kleinkolonien aus selbst gebauten Blechhütten am Rand der Autobahn ohne Strom und Wasser. Die Menschen dort verteidigen das Land ihrer Ahnen gegen die von der Regierung verordnete Zwangsumsiedlung. Der Dorfälteste, der uns durch die Siedlung führte, sah müde aus, sein Gesicht mit den vielen Einkerbungen ist vom Leben gezeichnet.
Wir waren in den Familien unserer zehn beduinischen Austauschschüler untergebracht. Das Vorurteil, Beduinen seien geizig und würden alles und jeden bestehlen, kann ich nicht bestätigen. Vielmehr ist Gastfreundschaft fester Bestandteil der Kultur, und so hatte ich das Gefühl, Teil der Familie zu sein. Meine 17-jährige Gastschwester Noha überschritt sogar die Geschlechtergrenze für mich, als sie mich mit den arabischen Männern Shisha rauchen ließ. Die meisten Austauschschüler stammen aus einem reichen, orthodoxen Familienclan, dem es nicht an westlichem Luxus fehlt. Das Klischee vom abgeschotteten Wüstenvolk, das mit seinen Tieren in Zelten
lebt und durch die Wüste zieht, bedienen die Beduinen schon lange nicht mehr. Sie leben in steinernen Häusern und kaufen bei Mango. Jeder hat ein iPhone, WhatsApp dient zur Kommunikation.
Trotz der neuen Lebensweise der jungen Menschen ist der Ramadan nicht nur für die älteren Generationen ein heiliges Fest. Jede Nacht hetzten wir von Cousin zu Cousin, um von jedem Tellerchen zu essen und überall Kardamom-Kaffee zu trinken. Kein Familienmitglied dürfe vernachlässigt werden, erklärte mir Noha.

Fremde im eigenen Land

Die Kehrseite dieser gefestigten Kultur zeigt sich in der Diskriminierung durch die Israelis. Sie reicht von abwertenden Blicken auf dem Markt in Tel Aviv bis hin zu Verhören bei der Passkontrolle am Flughafen. Kommentare wie „Mit Beduinen verhandle ich nicht“ waren bei unseren Ausflügen nach Tel Aviv und Jerusalem nicht zu überhören. Noha versucht solch verletzende Worte zu ignorieren. „Im Grunde fühlen wir uns doch alle im Herzen als Palästinenser“, meint sie. Doch der Trotz gegenüber der Regierung ist offensichtlich. „Wir sind Fremde in unserem eigenen Land.“
Wegen des Kriegs mit Palästina und der Spannungen zwischen den drei Hauptreligionen Israels – Judentum, Islam und Christentum – ist Gewalt für alle Bürger ein täglicher Begleiter. Beim Einschlafen konnte ich die Bomben im 40 Kilometer entfernten Gaza hören. Im Zug saßen Soldaten mit ihrer Kalaschnikow auf dem Schoß neben mir, während aus den Lautsprechern Katy Perry dröhnte. Eine weiteres Erlebnis hat mich nachhaltig geprägt: Als ich am ersten Gasttag in meinem Zimmer frühstückte, schauten regelmäßig streng gekleidete Männer rein, die ich zuerst für Verwandte hielt. Später, als diese Männer begannen, die Einrichtung zu demolieren, begriff ich, dass es jüdische Soldaten bei der Hausdurchsuchung waren. Den Ernst der Lage verstand ich jedoch erst, als meine Gastmutter ihren kleinen Sohn den Händen eines Soldaten entriss. Wegen einer seit Generationen andauernden Feindschaft hatte die gegnerische Seite die jüdische Polizei auf meine Gastfamilie gehetzt.

Kennenlernen und akzeptieren

Die Kombination aus westlichem Lebensstil und der immerwährenden Präsenz von Gewalt stimmt mich nachdenklich. Erstmals hatte ich das Gefühl, wirklich zu verstehen, wie wichtig es ist, die Mentalität des Landes zu verinnerlichen, um dort leben zu können. Dass unter diesen Voraussetzungen die beduinischen Traditionen bestehen können, gleicht einem Wunder.
In wenigen Tagen reisen Noha und ihre Mitschüler nach Berlin, um für wenige Tage Teil unserer deutschen Familie zu sein. Auch wenn die kulturelle Perspektive eine völlig andere ist, so haben wir, die beduinischen und deutschen Schüler, uns doch auf gemeinsame Ziele verständigt: das Kennenlernen und Akzeptieren einer neuen Kultur.

Von Alina Mohaupt , 16 Jahre

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