Lebendige Schatten ohne Schwarz-Weiß-Malerei

In diesem Bergdorf haben Zwerge die Gruft des Hexenmeisters Guismund gefunden. Illustration: Cornelia Funke. Aus „Reckless – Lebendige Schatten“ von Cornelia Funke. Dressler Verlag

Eine dunkle Motte trägt Jacob auf der Brust, seit er den Namen der Dunklen Fee ausgesprochen und ihren Fluch auf sich gezogen hat, um seinen Bruder zu retten. Feenflüche sind tödlich und Jacob bleibt nicht viel Zeit, um ein Gegenmittel zu finden. Doch weder der Apfel, der alles heilt, noch der Brunnen der ewigen Jugend konnten den Fluch bisher brechen und auch das Blut eines nordischen Flaschengeistes erweist sich als machtlos. Die einzige Hoffnung, die ihm daher noch bleibt, ist die seit langem verschollene Armbrust des Hexenmeisters Guismund, dessen Grabkammer gerade von Zwergen entdeckt wurde. Es heißt, wenn eine ihn liebende Person ihn mit dieser Armbrust ins Herz träfe, würde ihn das nicht umbringen, sondern sein Leben retten. Da die Zauberwaffe allerdings auch ganze Armeen vernichten kann, ist Jacob nicht der einzige, der sich für sie interessiert; zwei Könige haben Schatzsucher beauftragt, die Armbrust unter allen Umständen vor Jacob zu finden.

Ein Junge, der eine Armbrust sucht – So einfach lässt sich der Plot von Cornelia Funkes zweitem Teil der Spiegelwelt-Reihe, „Reckless – Lebendige Schatten“, zusammenfassen und nach nur wenigen Seiten ist absehbar: Die Handlung wird darüber hinaus nicht komplexer. Um die Motive der einzelnen Protagonisten wird kein Geheimnis gemacht, sie stehen von Anfang an fest und ändern sich im Laufe der Erzählung kaum, und auch die Wesen, die Funkes Spiegelwelt bevölkern, sind den Lesern aus Märchen und anderen Fantasy-Romanen bekannt. Mangelnde Originalität? Vielleicht, aber wenn, dann als Programm. Indem Funke und ihr Co-Autor Lionel Wigram auf der ersten Seite in die Rolle von Herausgebern der Geschichte schlüpfen, die den Text nur gefunden und nicht verfasst haben, stellt sie sich nämlich ganz bewusst in die Tradition des Märchenerzählens, die davon lebt, dass Geschichten wieder und wieder aufgegriffen und dabei nur leicht verändert werden.

Verhindern die einfache Handlungsführung und die Vertrautheit der Märchenwelt und der Motive prinzipiell nicht das Entstehen von Spannung, dauert es trotzdem erstaunlich lange, bis der Roman seine mitreißende Dynamik entfaltet. Zwei Themenkomplexe, die Funke geschickt vor dem Hintergrund der Märchenwelt entwickelt, verlangsamen das Erzähltempo.

Der Hexenmeister Guismund ist eine der wenigen wirklich bösen Figuren. Illustration: Cornelia Funke. Aus „Reckless – Lebendige Schatten“ von Cornelia Funke. Dressler Verlag

Zum einen nutzt die Autorin die Spiegelwelt als Experimentierfeld. Was passiert mit einem abgeschlossen Minikosmos, wenn Bewohner einer anderen Welt eine neue Technologie einführen? Das originelle an dieser Überlegung liegt darin begründet, dass die alte Magie der Spiegelwelt mit unserer Technik verglichen wird, die für die Spiegelweltbewohner genauso an Zauberei grenzt. So besitzen in Albion, einem der Länder hinter dem Spiegel, das sich mitten in der Industrialisierung befindet, die Dampfmaschine und das Aspirin die gleichen Zauberkräfte wie eine Hexensalbe und ein Drache. Es geht Funke folglich nicht einfach um die Verherrlichung einer vorindustriellen Gesellschaft. Zahlreiche Gegenstände aus unserer Welt erhalten in der Spiegelwelt eine magische Aura, werden bewusster wahrgenommen und anders geschätzt.

„Das Foto zeigte ein junges Mädchen, vielleicht achtzehn Jahre alt. Jacob trat auf das Bild zu. Vergangene Wirklichkeit, mit Licht und Säure auf Silber gebannt. Hinter dem Spiegel wurde man daran erinnert, was für ein Wunder ein Foto war.“

Auch wird deutlich, dass die alte und die neue Magie sowohl zum Guten als auch zum Bösen verwendet werden können und sich ihre Nützlichkeit immer an den Absichten ihres Benutzers entscheidet.

„Die neue Magie ist die alte Magie. Dieselben Ziele, dieselben Begierden …“

Zum anderen lähmt der Todesfluch den Fortgang der Handlung. Der 25-Jährige Jacob muss sich trotz seines jugendlichen Alters mit dem Sterben auseinandersetzen, mit dem, was er im Leben erreichen wollte und nun vielleicht nicht mehr erreichen kann, und mit der Sorge, um diejenigen, die er zurücklassen wird. Jacob, der sich die Sehnsucht anderer zum Beruf gemacht hat, indem er für sie auf Schatzsuche geht, wird nun mit seiner eigenen Sehnsucht konfrontiert und muss feststellen, dass es viel schwieriger ist zu finden, was man selbst begehrt. Als einer, der ständig auf der Suche und zwischen zwei Welten zu Hause ist, bietet er ein besonders großes Identifikationspotential. Seine Gedanken über die eigene Sterblichkeit mögen die Handlung auf den ersten Blick bremsen, auf den zweiten Blick machen sie jedoch die eigentliche Stärke des Romans aus. Sie verleihen dem Roman eine besondere Tiefe und verdeutlichen Cornelia Funkes Talent als Erzählerin. Nirgendwo sonst als in diesen schwermütigen Passagen sind ihre knappen und unprätentiösen Sätze poetischer und schöner.

Das Schloss des Blaubarts ist von einem undurchdringlichen Labyrinth umgeben. Illustration: Cornelia Funke. Aus „Reckless – Lebendige Schatten“ von Cornelia Funke. Dressler Verlag

Einer der gelungensten Momente des Romans ist daher Jacobs Begegnung und sein Kampf mit einem Blaubart, der Frauen ermordet, um ewig zu leben. Während Jacob sich überhaupt nicht vorstellen kann, vom Leben jemals genug zu haben, verspürt der Blaubart trotz seiner Gier einen gewissen Lebensüberdruss.

„Der Nachteil eines langen Lebens. Nach nur hundert Jahren sind die anderen durchschaubar wie Glas. Jede Tugend, jedes Laster, jede Schwäche … nichts als endlose Wiederholungen. Jede Begierde tausendmal gelebt, jede Illusion mehr als hundertmal verloren, alle Hoffnungen kindisch, alle Unschuld ein Scherz …“

Durch den Blaubart lernt Jacob, dass es gerade die Unwiederholbarkeit eines Momentes ist, die ihn so kostbar macht. Der melancholische Grundton des Romans wandelt sich somit zunehmend in eine Sehnsucht nach Leben, die in Jacobs wachsender Liebe zu seiner Freundin Fuchs gipfelt.

Mit großem Einfühlungsvermögen beschreibt Funke diese Freundschaft zwischen der Gestaltwandlerin Fuchs und dem Menschen Jacob, die sich immer an einer unsichtbaren Grenze bewegt, die beide nicht zu überschreiten wagen, aus Angst um die eigene und die fremde Verletzlichkeit.

„Es gab Dinge, nach denen das Herz so heftig verlangte, dass der Verstand zum hilflosen Zuschauer wurde. Das Herz. Die Seele, was immer es war …“

Überhaupt scheinen die meisten Figuren des Romans aus Liebe oder enttäuschter Liebe zu handeln. Selbst die „bösen“ Figuren sind bis auf ganz wenige Ausnahmen selbst Getriebene und handeln, weil sie nicht anders können. Es ist Cornelia Funke hoch anzurechnen, dass sie nicht in eine Schwarz-Weiß-Malerei verfällt, sondern auch Jacobs Gegner zumindest teilweise zu Sympathieträgern macht. So spürt die Dunkle Fee beispielsweise Jacobs kommenden Tod wie eine Wunde auf der eigenen Haut und bedauert es beinahe, dass ihr Fluch ihn getroffen hat, als er ihren Namen aussprach. Auch Jacobs gefährlichster und hartnäckigster Gegner, der Goylbastard Nerron, erregt trotz seiner Gewaltausbrüche auch Mitleid: Als Bastard von den Menschen gehasst und von seinen eigenen Artgenossen, den echsenartigen Goyls, als minderwertig ausgegrenzt, wünscht er sich nichts sehnlicher als eine andere Welt zu finden, in der er in Frieden leben kann.

Am Ende bleiben einige Rätsel ungelöst. Wer ist der geheimnisvolle Earlking, den Jacob in seiner Heimatwelt trifft, und welchen Preis wird er dafür fordern, dass er Jacob den Weg aus dem Labyrinth des Blaubarts gezeigt hat? Auch wird das Verschwinden von Jacobs Vater, das im ersten Teil der Reckless-Reihe zum Ausgangspunkt von Jacobs Reise in die Spiegelwelt wurde, wieder aufgegriffen. Die Sehnsucht nach dem verlorenen Vater bleibt so präsent, dass man geneigt ist zu fragen, ob Jacob seinen Vater im dritten Teil der Reihe nicht doch noch finden wird.

Cordula Kehr (21 Jahre)

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Kategorien Kultur Literatur

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