Tinder in der Bar
Das ewige Bangen zwischen Hoffnung und Enttäuschung: Wie wird dieser Abend ausgehen?
Die Erfahrung lehrt

Ach, Tinder: Was zwei Jahre exzessives Online-Dating mit einem machen

Unsere Autorin hat zwei Jahre lang den Tinderlifestyle durchgezogen. Sie konnte gar nicht anders. Nach einer Bemerkung ihrer Mutter kam sie ins Grübeln – und schrieb diesen Artikel.

Von Ella Friedrichs (Name geändert)

Mehrmals die Woche, immer vor der gleichen Bar mit der bunten Lichterkette, fremde neue Männer treffen. Ein paar Wein trinken, sich irgendwann in die Arme fallen, die Zungen ineinander versenken, gegebenenfalls miteinander die Laken durchwühlen und danach alleine durch die Nacht nach Hause radeln. Tagelang auf Nachrichten warten, stundenlang darüber diskutieren wie unverbindlich und belanglos das doch alles ist. Aber auch selbst viele Absagen verteilen. Immerhin noch schreiben, denn: Ghosting geht natürlich gar nicht. Und schließlich nach und nach merken, wie wenig man selbst eigentlich bereit ist, sich auf eine einzige Person einzulassen, die nicht ganz perfekt ist. Warum sollte man auch? Wenn doch nur ein paar Zentimeter entfernt dieses kleine Gerät in der Jackentasche steckt, aus dem man noch so viele andere, wahrscheinlich viel spannendere Menschen herausholen kann. Also weiter nach links und ganz manchmal nach rechts wischen und bei den Worten „it’s a match“ hüpft – peinlicherweise – das Herz.

Über Apps wie Tinder wird der Mensch zur Ware, bewusst und unbewusst

2017 probierte ich Tinder das erste Mal aus. Es wurden zwei lange Jahre daraus, in denen ich den sogenannten „Tinderlifestyle“ konsequent durchzog. „Wahnsinnig interessant“ sei es, sagte ich am Anfang, man lerne einfach so unterschiedliche Leute kennen. „Abschreckend, widerlich“, sei dieses Menschen-Konsumieren, sagten die vergebenen Freundinnen, gierten aber gleichzeitig nach neuen Stories von meiner Dating-Front. Mein Kumpel Hannes meinte „Wenn das jetzt Dating ist, dann gute Nacht“ und schielte doch jedes Mal neidisch auf meinen Handybildschirm, wenn ich mich neben ihm durch ein paar Männer arbeitete. Meine Freundin Signe klagte, dass sie durch Tinder in Bars keine Frauen mehr kennenlerne. Und Lina sammelte einfach nur „Matches“ mit schönen Männern ­– ohne die Absicht sie jemals zu treffen.

Mir half Tinder zunächst über den Exfreund hinweg, doch relativ schnell verselbstständigte sich die Sucht nach mehr Gesichtern, mehr Stories, mehr Dates. Ich wurde schneller abhängig als ich dachte. Die Bestätigung in Form von „Likes“ und Nachrichten pushte mich enorm, machte mein Leben plötzlich satt und hell. Und dann wieder dramatisch dunkel, wenn der Andere, auf den ich schon alle Hoffnungen projiziert hatte, plötzlich nicht mehr schrieb und ich ausgewechselt wurde. Und so wurde auch ich selbst schließlich immer skrupelloser. Schrieb und traf mich parallel mit mehreren Männern und ließ diverse Hintertüren offen. Und auch wenn ich so tat, als würde ich über allem stehen, alles ironisch nehmen – in Wirklichkeit gruben sich die Hoffnung, die Freude, die Enttäuschungen tief ein und hinterließen Spuren.

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Dating-Apps als logische Konsequenz aus unserer kapitalistischen Konsumgesellschaft

Über Apps wie Tinder wird der Mensch also zur Ware, bewusst und unbewusst, gewollt und ungewollt. Er wird zum Täter und zum Opfer, alles ist dabei. Und wie schnell man sich daran gewöhnt, dass es jetzt eben so ist. Und vielleicht meldet man sich sogar nie wieder ab, so wie Emma, die sich trotz Beziehung weiter mit ihren Tinder-Matches schreibt. Weil sie sich von der Jagd einfach nicht trennen kann. All diese neuen Beziehungskonzepte, sie sprießen nur so aus dem Boden: offene Beziehungen, Krümelbeziehung, Mingle, Polyamorie, Freundschaft Plus. Aber so richtig ernst, exklusiv, geschlossen? Lieber nicht. Besonders nicht in Berlin, wo das Angebot an Menschen schon offline immens ist und dann noch alles doppelt und dreifach online existiert. Eine Überforderung, für alle. Für die Soziologin Eva Illouz, die sich seit Jahren mit dieser Thematik beschäftigt, sind Dating-Apps die logische Konsequenz aus unserer kapitalistischen Konsumgesellschaft. Das Onlinedating führe, so Illouz, zu einer zunehmenden Technisierung und Rationalisierung romantischer Beziehungen, wodurch wahre und tiefe Bindungen erschwert und verhindert würden. 

„Aber warum ist man nicht einfach zufrieden mit einem Match, trifft den und versucht das erstmal?“

Als ich einmal meiner Mutter versuchte zu erklären, wie das so läuft mit dem Online-Dating, stellte sie die verständliche Frage: „Aber warum ist man nicht einfach zufrieden mit einem Match, trifft den und versucht das erstmal?“ Tja, warum nicht? Weil man schon längst vergessen hat, warum man überhaupt hier ist. Weil man sich im Spiel verloren hat. Und weil immer wieder die Hoffnung da ist, dass der Nächste derjenige sein könnte: der Mensch, der dich wirklich umhaut, „the one and only“, die Liebe des Lebens…

Dieser permanente Stress, dass man immer weitersuchen kann, dass man eigentlich ständig wischen, scrollen, tippen, posen und vor allem immer lustig sein muss. Überall. Und am Ende saß man zwei Stunden in Mantel und Schal auf dem Bett, weil man beim Nachhausekommen zu vertieft war, um sich auszuziehen.

Ignorieren ist nicht schwer, wenn da ja sofort so viele neue Leute sind

Ungezählt die vielen Familienfeiern, Nichtengeburtstage, Grillfeiern, Kinoabende auf denen ich mich in unbeobachteten Momenten ins Bad verkroch, um mit belanglosen Männern zu schreiben, mit denen die Konversation meistens schon am gleichen Abend wieder beendet war. Vielleicht war es ein Wort, ein Satz gewesen, der nicht gepasst hatte, vielleicht hatte die Größenangabe dann doch Zweifel aufkommen lassen. Also einfach nicht mehr zurückschreiben. Ignorieren ist nicht schwer, wenn da ja sofort so viele neue Leute sind. Ja, sorry, es reichte eben nicht. Aber zur Rede gestellt wird man sowieso nie. Es ist normal. Jeder macht es so. Es wird plötzlich so leicht, hart und skrupellos zu sein.

Menschen bewerten, abwerten, wegwischen und darüber gekränkt sein, dass andere dasselbe mit mir tun – mich sammeln, so wie ich sie sammele. Aber ist das wirklich alles? Was bin ich denn noch außerhalb meiner eigenen Selbstvermarktung und meiner Fotos? Was bleibt, wenn das alles unwichtig wäre?

Im Grunde viel. Denn für mich und viele andere hat es eben nicht funktioniert. Denn nur weil Johann wahnsinnig gut aussah, Nils sich mit seinem Skateboard, Sven sich surfend und Daniel sich rennradfahrend präsentierte, waren es eben noch lange keine Menschen, mit denen ich mir etwas zu sagen hatte. Nichts passte und schlussendlich hatte ich das Gefühl immer unfreier zu werden – in einem Angebot zu wühlen, das ich sonst gar nicht wählen würde, mich mit Menschen zu treffen, die mich im Grunde nicht faszinierten.

Mich zumindest viel weniger faszinierten, als der Typ im Laden um die Ecke, der dort immer einkaufte, wenn auch ich meinen Wagen durch die Gänge schob. Mit dem ich mich manchmal an der Kasse anlächelte und dessen kleinen Hund, weiß und wollig, ich streichelte, wenn dieser vor der Tür wartete. Ich hatte mich nie getraut den Mann anzusprechen. Wenn ich neben dem Hund hockte, als er aus dem Laden trat, stand ich schnell auf und ging weg. Obwohl ich mir Abend für Abend mit Fremden schrieb, war die Angst in der realen Welt ein „Nein, danke“ zu hören, nur noch größer geworden. Schlussendlich hatte ich dadurch meine Chance verpasst, denn plötzlich kam der Mann nicht mehr in den Laden und ich sah ihn nie mehr wieder.

Die ersten Tage ohne Tinder waren wie Entzug

Im März letzten Jahres meldete ich mich schließlich bei Tinder ab. Der letzte „Tindermann“ war eine frustrierende Affäre gewesen. Auch nach zwei Monaten hatte er mich konsequent mit meinem Tinder Profil-Namen angesprochen und die paar Male, die ich ihn zu Hause besucht hatte, stand er nicht an der Tür und wartete dort auf mich, sondern saß mit einer Schüssel Salat in seinem Schoß auf dem Sofa, schaute „Game of Thrones“. Und als ich hereinkam, aß er weiter, ohne auch nur aufzuschauen. Als ich ihn später darauf ansprach und zum zehnten Mal die Ausrede von seiner generellen Bindungsunfähigkeit hörte, machte ich die Biege. Auf dem Weg nach Hause drückte ich „Konto löschen“ – doch die App schien es selbst kaum zu glauben, zum wiederholten Mal blinkte der Button „Konto wirklich löschen?“ auf. Ja, Herrgott nochmal, ja, lösch mich endlich! Genug war genug.

Die ersten Tage danach waren wie auf Entzug. Keine Männer mehr zum Wegwischen, Chatten, Anschauen? Gleichzeitig fühlte ich mich frei und selbstbestimmt wie lange nicht mehr. Allein die ganze freie Zeit, die ich mir durch die Deinstallation geschaffen hatte, es war regelrecht absurd. Ein Jahr später habe ich keine Happyend-Geschichte außerhalb von Tinder vorzuweisen. Weder sah ich den Supermarktmann wieder, noch gab es spontane Begegnungen mit süßen Nachbarn im Treppenhaus, noch hat sich ein guter Freund als mehr herausgestellt. Bei mir passierte also nichts von alledem. Und dennoch habe ich mich nicht wieder auf Tinder angemeldet. Vielleicht weil ich es irgendwann endlich begriffen hatte: Nichts war auf Tinder so selten zu finden wie eine bedeutungsvolle Begegnung mit einem anderen Menschen – die an mir haften blieb. Das Angebot auf allen Seiten war einfach zu groß.

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