Aufkleber aus der Provinz auf einem Berliner Pfosten
Klartext

Ein Herz für Zugezogene

Eine genervte Autorin schreibt in der „Furios“ über jammernde Neuberliner. Eine Replik.

Schneller, lauter, bunter – der Puls unserer Millionenstadt verursacht bei vielen Berlin-Frischlingen Herzrasen. So wird bisweilen ein verbales Kopfschütteln über montägliche Raves und S-Bahn-Drängeleien hörbar, das an Mensa-Tischen und Kneipentresen offenbar auf gereizte Ohren stößt.

„Heult leiser!“, mokierte sich kürzlich eine Autorin im Studentischen Campusmagazin der FU Berlin „Furios“. Natürlich eine Urberlinerin mit echtem Bär im Pass und Urquell in den Adern. Langsam sei ihr der weinerliche Singsang der Kleinstadt-Importe zuwider. Sie hätten schließlich gewusst, worauf sie sich einlassen. Die Konsequenz: Das selbst erkorene Schicksal ertragen wie Sisyphos – die mythologische Figur, welche den gleichnamigen Club nie von innen sah – und jefälligst die Klappe halten.

Klar, nervt das ständige Nörgeln

Die Kritik der indigenen Nörglerin hat sicher berechtigte Anhaltspunkte. Nach der zehnten Beschwerde in „Bild“-Zeitungsrhetorik – „Schock! Heroin-Junkies am Kotti gesichtet!“ „Unfassbar! Der Döner meiner Nachbarn ist halal!“ – drehen sich auch meine Augäpfel automatisch gen Hinterkopf.

Dennoch: Das Kollektiv-Mimimi der frisch Zugezogenen erscheint mir nicht, wie von der Autorin bemeckert, als Affront gegen die Hauptstadt als solche. Betrachten wir es lieber als soziokulturelles Ritual: Indem ich meine Verwirrung mit anderen meiner Art teile, finde ich Zugehörigkeit und Verständnis in einer mir fremden Stadt. Eben so lange, bis sich die Einheimischen dazu herablassen, mit mir Soja-Latte zu trinken.

Als Integrationshilfe für nervige – weil überforderte – Ex-Dörflinge schlage ich der „Furios“-Autorin vor, sich aktiv an einer Willkommenskultur zu beteiligen: Zeig den Newbies deine Stadt, dann hört das Jammern bestimmt auf.

Beitragsbild: Raufeld Medien

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Kategorien Klartext Schule & Zukunft Uni & Ausbildung

Schreiben ist meine Neurose. Ich mache das wirklich nicht freiwillig. An pathologischer Schreibwut leide ich etwa seit meinem neunten Lebensjahr. Heute bin ich 24. Sie äußert sich in der übermäßigen Produktion von Texten, dabei reagiere ich sensibel auf gute Geschichten. Schreiben ist mein Plüsch–Airbag gegen Schleudertraumata im täglichen Gedankenkarussell, Weckglas für klebrig-süße Memoirenmarmelade und die doppelte Aspirin am Morgen nach einem exzessiven Empfindungsrausch. Ich habe eine Schwäche für Präpositionen mit Genitiv, Schachtelsätze und Ironie. In die Redaktion komme ich nur, weil es da umsonst Tee gibt.